Sterben üben - GastArtikel von Griet Hellinckx
„Unsere Reflexion über die Sterblichkeit ist eine Reise,
die die Weisheit der sich ständig wandelnden Jahreszeiten widerspiegelt.
Sie lädt uns dazu ein, Veränderung zuzulassen
und die tiefsten Ängste und Unsicherheiten loszulassen.“
In Zeiten von Fake News gibt es eine Aussage, an der wir nicht zweifeln müssen.
Sie gilt für uns alle: Wir werden sterben.
Oder genauer gesagt: Unser physischer Körper wird sterben.
Obwohl dies eine unbestreitbare Wahrheit ist, neigen wir dazu, sie zu ignorieren. Es gibt jedoch Momente, in denen plötzlich Fragen, Überzeugungen, die Angst oder sogar die Sehnsucht nach dem Tod uns einholen. Wenn wir uns von jemandem verabschieden, der uns nahesteht, wenn Berichte über Naturkatastrophen oder Unfälle über unsere Bildschirme flimmern, wenn in der Zeitung vom Tod eines bekannten Politikers oder einer geliebten Sängerin berichtet wird, halten wir inne und fragen uns vielleicht, wie es ist, zu sterben und was nach dem Tod kommt.
Im Februar 2023 erhielt eine liebe Freundin eine Prognose, die ihr diese Fragen ins Bewusstsein rückte. Wir führten intensive Gespräche, ich gab ihr Buchtipps und bemerkte zunehmend, wie sehr diese Themen im Alltag ausgeklammert werden. Dies motivierte mich, einige Aufnahmen für meinen YouTube-Kanal zu machen und Gesprächsmöglichkeiten im Kreis über diese Fragen zu schaffen.
Der Austausch in den Online-Gruppen war berührend und bereichernd. Es ist beeindruckend, welche existenziellen Erfahrungen wir als Menschen machen, ohne darüber mit anderen zu sprechen. Mehrfach hörte ich Aussagen wie „Nur wenige Menschen wissen das über mich“ oder „Das habe ich noch nie jemandem erzählt“. Auch mir ging es so. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit diesem Themenbereich, habe jedoch bis vor Kurzem nur sehr selten über meine eigene Nahtoderfahrung im Herbst 2006 in Bangladesch gesprochen, obwohl sie außergewöhnlich bewegend und transformativ war.
Bei genauer Betrachtung können wir erkennen,
dass wir jeden Tag das Sterben üben.
Mit jedem Atemzug führen wir den Rhythmus
des Ausatmens und Einatmens aus.
Eine gemeinsame Erfahrung, die zum Zeichen für das Wechselspiel von Inkarnation und Exkarnation werden kann. Zwischen dem Ein- und Ausatmen gibt es einen Moment, der weder das eine noch das andere ist. Eine Lücke. Dieser Moment kann mit den Übergängen bei der Geburt und im Sterbeprozess verglichen werden. Es kann ein bloßer Augenblick sein, den wir nicht wahrnehmen, da er einfach geschieht.
Doch wir können unser Bewusstsein darauf lenken und sogar in den Atemrhythmus eingreifen. In verschiedenen Traditionen ist dies Teil der spirituellen Praxis.
Blühen & Vergehen, Weite & Enge, Auflösung & Verdichtung. Worte, die auf grundlegende Dynamiken hinweisen und alle das Wechselspiel zwischen Festhalten & Loslassen, Ausatmen & Einatmen bezeugen. Streng genommen ist unser Leben dadurch geprägt, dass wir bestimmte Denkmuster, Gefühle, Wünsche und Pläne irgendwann loslassen müssen. Selbst die Gegenstände, die wir besitzen, können verschleißen oder zerbrechen. Neue Lebensphasen können erfordern, dass wir einen geliebten Ort verlassen und einen Schritt ins Neue, vielleicht Unbekannte, wagen. Manchmal fällt dies leicht, oft jedoch nicht.
Der Schlaf, als kleiner Bruder des Todes,
erinnert uns ebenfalls täglich daran,
dass wir als Menschen
bestimmten Rhythmen folgen.
Ich kann lernen zu beobachten, was ich aus der Nacht mitbringe. Es können Impulse oder Träume sein, aber auch erhebende oder unangenehme Gefühle.
Ich spüre, dass ich mit meinem Bewusstsein irgendwo anders war. Was in diesem unbekannten Bereich geschieht, ist jede Nacht anders.
Manchmal wache ich erfrischt auf, manchmal regelrecht erschöpft.
Auch wenn manche Menschen Schlaf für verschwendete Zeit halten mögen, bleibt ihnen dennoch nichts anderes übrig, als sich dem Schlaf immer wieder hinzugeben. Ich muss meine Gedanken, Gefühle und den Drang zur Handlung loslassen, sonst kann ich nicht zur Ruhe kommen, bleibe wach oder verstricke mich in einem halbwachen Zustand. Der Prozess des Einschlafens erfordert, dass ich all das, was mich tagsüber beschäftigt hat, loslasse und mich dem Unbekannten hingebe.
So wird das Einschlafen zur idealen Vorbereitung und zum Übungsfeld für das Sterben.
Die Natur erinnert uns ebenfalls an die unerbittlichen Rhythmen und Veränderungen. In Westeuropa, wo ich lebe, markieren die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen die Unterteilung in 4 Jahreszeiten.
Der Herbst erinnert uns an die Vergänglichkeit und Sterblichkeit allen Gewordenen.
Vier christliche Feste wurden zeitlich in die Nähe dieser Wendepunkte gelegt: Johannistag, Michaelis, Weihnachten und Ostern. Es sind Momente, in denen der Richtungswechsel erfahrbar wird und die Betonung sich im Tag-Nacht-Rhythmus verändert.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden diese Wendepunkte von vielen Völkern in Ritualen und Geschichten gefeiert und hervorgehoben. Gebäude und Bauwerke wurden errichtet, an denen diese kosmischen Ereignisse beobachtet und sogar vorhergesagt werden konnten. Beispiele hierfür sind Stonehenge (England), Chichen Itza (Mexiko) und Newgrange (Irland). Licht und Dunkelheit begegnen sich in einem wiederkehrenden Rhythmus.
So wie wir jeden Morgen nachvollziehen können,
was wir aus der Nacht mitbringen,
ist die Schwelle zwischen Leben und Tod
nicht vollständig undurchdringlich.
Manche Menschen empfinden zum Beispiel, dass sie nicht als unbeschriebenes Blatt in die Welt kamen, sondern Impulse und Träume mit sich brachten.
In vertraulichen Gesprächen erzählen Menschen öfter als man denkt, dass sie das Gefühl haben, ihre verstorbenen Angehörigen würden sie noch besuchen und dass sie mit ihnen kommunizieren können. Seit mehreren Jahrzehnten werden Berichte über Nahtoderfahrungen veröffentlicht. Das Beschriebene ist erstaunlich ähnlich. Forschungen haben gezeigt, dass nach einer Integrationsphase oft Entscheidungen mit biografischen Veränderungen getroffen werden. Die meisten Menschen, die eine solche Schwellen-Erfahrung gemacht haben, haben ihre Angst vor dem Tod verloren. Ihre Wertschätzung für das Leben ist gewachsen, sodass es ihnen leichter fällt, auf ihre innere Stimme zu hören, anstatt sich von äußeren Erwartungen leiten zu lassen. Das ist auch mir passiert. Die Erfahrung, wie alles, was so wichtig schien, von mir abglitt, ist tief in mir verankert und lässt mich immer wieder bewusst oder unbewusst prüfen, was wirklich wichtig ist. Wenn ich in der Meditation meine Aufmerksamkeit vom Alltag abziehe, öffne ich den Raum, der sich mir im Sterbeprozess gezeigt hat.
Die Liebe, die ich als mein Wesen erkannte, erlebe und koste ich bewusst in der Meditation.
Sie hilft mir, ein authentisches Leben zu führen und mein Wesen in die Welt strahlen zu lassen.
Von Griet Hellinckx
5 Fragen an Griet Hellinckx
Welche Rituale und Praktiken unterstützen dich in der aktuellen Phase des Jahreszyklus, dem Herbst?
Meine tägliche Meditation, Kerzen, Spaziergänge, tiefe Gespräche mit Freund:innen, Konzerte, die Stille, das Beobachten und die Wertschätzung für den Wandel der Farben in der Natur (von leuchtendem Gelb, Orange und Rot hin zu Ocker, Aubergine, Anthrazit, Olivgrün, Elfenbein, Mokka, Moosgrün).
Du beschäftigst dich auch mit den Träumen und deren Symbolen mit deinen Klientinnen. Wie können wir Kraft und Klarheit dadurch bekommen?
Im Talmud heißt es: „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungeöffneter Brief.“ Ich mag diese Metapher. Wenn wir dieses Bild aufgreifen, ergeben sich zwei Fragen: Wer schreibt diesen Brief? Und worum geht es in seinem Inhalt?
Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit meinen eigenen Träumen und denen anderer Menschen finde ich es wichtig zu betonen, dass es sehr unterschiedliche Arten von Träumen gibt. Hier seien einige Typen genannt: Manche dienen vor allem der Verarbeitung der Tageserlebnisse. In vielen Träumen finden sich jedoch wichtige Hinweise auf Themen, die ich auf meinem (spirituellen) Weg sinnvollerweise anschaue, damit sich in mir Blockaden, Muster usw. lösen können und ich meine Kraft und mein Potenzial immer stärker leben und ausdrücken kann. Es gibt außerdem Träume, die mir deutliche Hinweise auf meine Lebensaufgabe oder auf die nächsten Schritte geben.
Die träumende Instanz in mir ist auf eigene Weise mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren um mich herum verbunden – und ebenso mit dem, was man das eigene Höhere Selbst oder die Seele nennen kann.
Wie läuft so ein Sitting ab?
Ich lasse mir den Traum erzählen, spüre den Energien in der Schilderung und in den Bildern nach und stelle dann Fragen, die sich sowohl aus meiner langjährigen Erfahrung mit Traumarbeit wie aus meiner Intuition und Wahrnehmung von Energien speisen. So erschließen wir uns gemeinsam die Bedeutung des Traums. Der/die Träumende ist für mich dabei die Quelle des Wissens und die ultimative Autorität.
Sobald eine Frage oder eine Deutung den Nagel auf den Kopf trifft, ist das spürbar. Ab da ist es die Aufgabe, dieses neue Verständnis in den Alltag zu integrieren.
Viele Menschen haben Angst dem Tod im Traum zu begegnen und deuten dies oft
als unheilvolles Omen. Was siehst du in diesem Symbol?
Ich erschrecke mich auch noch manchmal, wenn im Traum jemand stirbt. Aber inzwischen weiß ich, dass dies in den seltensten Fällen bedeutet, dass diese Person sterben wird. Tod steht für Verwandlung. Es ist dann gut zu schauen, wofür dieser Mensch in mir steht. Oft ist es diese Qualität oder Eigenschaft in mir, die sich wandelt. Manchmal ist es auch das Bild, das ich von diesem Menschen hatte, das sich verändert.
Was ist dein Soundtrack für den späten Herbst?
Die Stille (!), Sami Yusuf, Cesaria Evora, Mercedes Sosa, Krishna Das, Estas Tonne, Arvo Pärt, Taizé-Lieder, Lubiana… Stimmen und Lieder, die innere Wärme und Glanz vermitteln.
Mehr über Griet
Griet Hellinckx unterstützt Gruppen und Einzelpersonen bei der Integration von Schwellen-Erfahrungen sowie in biografischen, beruflichen und spirituellen Entwicklungs- und Transformationsprozessen. https://re-connect.net/
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